Vielleicht war er tatsächlich ganz froh, mich dort oben zu wissen. Der Herr mochte es nicht, wenn ich herunterkam. „Auf deinen Platz, Narr, auf deinen Platz“, und ich duckte mich unter den Buckel und stieg auf den Sims. Er wollte mich nicht in seiner Nähe haben. Ganz gleich, wie betrunken er war, um mich machte er stets einen Bogen. Der Venezianer lachte, als ich ihm davon erzählte. „Natürlich, Närrchen, er fürchtet sich vor dir. Wie alle Herren fürchtet er sich vor dem Narren, nicht wegen des Buckels, wie die anderen Leute, sondern wegen der Lieder.“- „Die Lieder“, sagte der Venezianer, „sind mächtig, mein Freund, mächtiger als die Herren. Sie lassen sich nicht besiegen.“ Immer wieder hab ich an diesen Satz gedacht, den Satz von den mächtigen Liedern, und hab ihn doch nicht verstanden. Erst jetzt, Marie, wo alles vorbei ist, jetzt weiss ich: Es war keine Verheißung, was der Venezianer mir sagte, es war eine Warnung – und ich verstand sie nicht.
Wie ein kostbarer Stein
Details
- Herausgeber: Nagel & Kimche
- Erscheinungdatum: 1. Januar 1998
- Hardcover: 164 Seiten
- ISBN: 978-3426630655
Rezensionen
„Wie der Steinmetz, der seiner am Südportal des Münsters aufgestellten Lieblingsfigur „die Augen mit einem feinen, steinernen Tuch“ verbindet, so legt auch Gabrielle Alioth ihren Romanfiguren eine Augenbinde um. Ein Gewebe – bald mehr, bald weniger dicht – legt sich als Schleier über die Wahrheit, spinnt sie ein in ein Netz des Schweigens.“
„Gabrielle Alioth schreibt sehr knapp und unprätentiös in klaren Bildern. Die Prosa überzeugt durch ihre Einfachheit, und die entspricht der Zurückhaltung, der Unterordnung des weiblichen Lebens im Mittelaiter. Nur, das wäre höchstens ein Roman über ein Dokument der Repression und geknebelter Sexualmoral. Die Autorin aber bringt vieles von der Zeitwende ein. Ohne aufdringlichen Effekt wird spürbar, welche Spannung allmählich ein geschlossenes Weltbild sprengt und die machtbewussten Autoritäten durch eine langsam gewachsene Laienfrömmigkeit unterminiert. Das alles tritt als Irritation in die klare Schilderung, und eben das zeichnet die erzählerische Arbeit aus, deren Botschaft in einen Satz gefasst lauten müsste: Die Mündigkeit ist in Gedanken vorhanden, auch wenn sie öffentlich noch nicht geduldet wird.“
„Das Buch vereint beides, die plastische Evokation des Mittelalters mit seinen heute unverständlichen ängsten, Fragen, mit Gewissensqualen, Leiden, die heute nicht weniger als zu anderen Zeiten, erschreckende Aktualität besitzen.“