Das Ungesagte und das Ungelebte: es sind geheime Kräfte, an denen die Menschen zugrunde gehen.
St. Galler Tagblatt, 21.3.1996, Bernadette Conrad
St. Galler Tagblatt, 21.3.1996, Bernadette Conrad
Ein abgelegenes irisches Tal, ein einsames Haus mit Sicht auf einen verwilderten Garten, einen kleinen Fluß. Eine Idylle, so scheint es dem Paar zunächst.
Sie kaufen das Haus, setzen Dach und Mauern instand. Doch dann ist es, als ergreife das Haus von seinen Bewohnern Besitz. Zunächst ist es nur ein Unbehagen, ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung, das Geräusch nächtlicher Schritte im Kies, die Umrisse eines Mannes, der entschlossen scheint, sich im äußersten Winkel des Grundstücks niederzulassen …
Seit zehn Jahren lebe ich nun in dem Haus an der Ostküste Irlands. Das Dach ist Iängst wieder dicht und der Garten von Brombeeren befreit. Aber noch immer stoße ich auf die Spuren der beiden Frauen, die vor mir hier gelebt haben, die eine zu Beginn, die andere in der Mitte des Jahrhunderts, und ich frage mich, wie sehr ihr Schicksal dem meinen glich.
Die in Irland lebende Schweizerin Gabrielle Alioth hat mit ihrem dritten Roman ein ebenso schwermütiges wie inspirierendes Buch geschrieben. Auf merkwürdige Art lebt es vom Nicht-Gesagten und Rätselhaften, das sich riesig als Stimmung und Ahnung hinter dem Gesagten auftut. So wird die Leerstelle zum literarischen Kunstgriff und ist zugleich, als Schweigen, das zentrale inhaltliche Motiv des Romans. Das Ungesagte und das Ungelebte: es sind geheime Kräfte, an denen die Menschen zugrunde gehen.
So wie die Ich-Erzählerin beginnt, Spuren zu lesen im Haus und ums Haus herum, so legt Gabrielle Alioth ihrerseits Spuren für die Lesenden. Wenn man diesen folgt – und sie sind so geschickt inszeniert, dass man ihnen folgen muss, folgen will – , so findet man sich nicht nur mit den drei Frauenfiguren konfrontiert, die gleichermassen individuell -lebendig und für ihre jeweilige Zeit repräsentativ sind, sondern man bewegt sich zudem in einer überaus dichten Atmosphäre innerhalb des ominösen Hauses und draussen im regennass wuchernden Garten; wie Nebel umfängt einen diese Stimmung. Das Haus als Arche im Unheil (wie der Titel des Buches ankündigt), zugleich als Schicksalsort, Zuflucht und Gefängnis in einem für die Frauen: das lässt Gabrielle Alioth mit sachlich-knapper, aber bildhafter und genauer Sprache auf fast magische Weise erleben
Der Roman ist ein Meisterwerk der Evokation von Stimmungen und Atmosphäre. Er fängt jede Schattierung, jede Tages- und Jahreszeit der irischen Landschaft mit solcher Genauigkeit und Farbenkraft ein, dass die Naturbeschreibung die kompliziert verwobenen Handlungstränge grundiert und eint
Immer deutlicher wird der erzählerische Kosmos dieser Autorin, bestimmt von existentieller Einsamkeit als Grundbedingung des Lebens, bevölkert von Figuren, die Gefangene ihres Schicksals sind, weder willens noch fähig zum Ausbruch. Mutmassungen über längst Vergangenes geben – im neuen Buch ebenso wie in den beiden früheren Romanen mit historischer Thematik – den Anstoss zum schreiben und bilden die Fäden eines komplizierten Textgewebes.
Dabei sind die Menschen in Alioths Roman nicht wirklich schlecht. Sie haben überhaupt keine besonderen Eigenschaften. Sind weder schön noch hässlich, weder fröhlich noch traurig. Sie erleben die Dinge des Lebens ohne äussere Anteilnahme. So will es die Erzählerin. Alioths neuer Roman ist ein bodenlos trauriges Stück Literatur. Und – er ist lesenswert.