Irland auf den zweiten Blick

Die in diesem Band zusammengetragenen Betrachtungen und Geschichten sind bei einem zweiten Blick auf Irland entstanden, der nicht klüger, aber freier ist, denn ein Ort – wie auch ein Mensch -, in den man sich zweimal verliebt, muss nichts mehr beweisen.

„Was willst du denn wieder in Irland?“, fragten meine Bekannten im Winter vor zwei Jahren. Bis auf das „wieder“ war die Frage vertraut. Man hatte sie mir schon 1984 gestellt, als ich zusammen mit meinem Mann auf die grüne Insel zog. Damals war ich – in Basel geboren und aufgewachsen – Ende zwanzig, zu jung, um mich endgültig in Schweizer Strukturen einzufügen, zu neugierig auf das, was jenseits der Grenzen lag. An einem legendär gewordenen Abend im Restaurant Gambrinus wählten wir bei Pizza und Chianti Irland, weil es uns (damals) das unschweizerischste aller europäischen Länder schien, und weil wir noch nie dort gewesen waren.

Zwei Monate später saßen wir auf der Fähre zwischen Liverpool und Dublin, und mein Mann, bis anhin Mittelalterhistoriker, beschloss, sich ab sofort Auslandkorrespondent zu nennen; ich selbst war Nationalökonomin, würde mich nun aber als Schriftstellerin versuchen. Wir hatten Glück. Nach einer etwas struben Anfangsphase gelang es uns, unsere beruflichen Träume zu verwirklichen – und wichtiger: Rosemount, das von Brombeeren und Brennnesseln überwachsene Anwesen nördlich von Dublin, das wir blauäugig Hals über Kopf kauften, entpuppte sich als Paradies. Irland war gut zu uns; aus den geplanten „ein paar Jahren“ wurde ein Vierteljahrhundert.

Wie es dazu kam, dass ich aus diesem Garten Eden vertrieben wurde, ist eine traurige und komplizierte Geschichte (jeder Irlandkenner weiß, dass es auf dieser Insel keine Schlangen gibt), und als das Tor hinter mir ins Schloss fiel, war ich erst einmal unter Schock. Es blieb nur der Rückzug – nach Zürich. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, in die Schweiz zurückzukehren, so sehr und gerade weil ich meine Kurzaufenthalte in der Heimat genieße, und nun, wo mich nichts und niemand mehr hielt, griff ich nach jeder Gelegenheit, die sich mir bot: Reisen nach Amsterdam, Paris, Berlin, ein Monat in den USA, ein Atelierstipendium in Krems an der Donau, ein Aufenthalt im Böll-Haus auf Achill Island im Westen von Irland. Während ich dort am Schreibtisch des berühmten „Kollegen“ über blühende Fuchsien auf das Meer hinunterschaute, dämmerte es mir, dass meine (Liebes-)Geschichte mit Irland noch nicht zu Ende war.

Die überzeugung, dass Sprache unser Denken formt, mag eine „déformation professionelle“ sein. Am eigenen Leib aber habe ich erfahren, dass man in einer anderen Sprache jemand anderer ist. Gestik, Mimik, wie man etwas sagt, aber auch, was man sagt, hängt an der Sprache, und diese – als Manifestation von Umfeld und Kultur – formt unsere Identität. Nach neunundzwanzig Jahren in der Schweiz und sechsundzwanzig in Irland habe ich zwei Identitäten: eine schweizerische, sprich baslerische, und eine irische. In beiden fühle ich mich wohl, jede bin ich, und beide zusammen machen aus, was ich bin. Zwei Welten, zwei Leben zu haben, ist, so denke ich, ein enormes Privileg, gerade für eine Schriftstellerin, die schreibend ihre Welt – oder eben Welten – stets aus Distanz und mit Distanziertheit betrachten muss. Mit meinen damals fünfundfünfzig Jahren war ich nicht bereit, eine dieser Identitäten aufzugeben. Und ich hatte Sehnsucht – nach dem Meer, der feucht-weichen Luft, in der, so George Bernard Shaw in John Bulls andere Insel, „der Verstand sich niemals verdichtet“, nach „den Farben im Himmel, der Verlockung in der Ferne, der Wehmut der Abende, dem Träumen, dem Träumen .“ So kaufte ich Ende 2010 wieder ein Haus in Irland.

Es war eine gute Zeit, um in Irland Häuser zu kaufen. Nachdem der „keltische Tiger“, wie man den irischen Wirtschaftsboom hierzulande nannte, zur Kirchenmaus mutierte, waren die Preise gefallen, und die Handwerker standen Schlange. Und wieder hatte ich Glück. Der mir von Freunden empfohlene Baumeister erwies sich nicht nur, im Widerspruch zu allen gängigen Klischees, als zuverlässig und kompetent, sondern – den irischen Klischees durchaus entsprechend – als äußerst freundlich und witzig. Er machte mich auf das Landarbeiterhäuschen aus den 1930er-Jahren in Termonfeckin aufmerksam (Feichín soll ein irischer Heiliger gewesen sein, Tearmann Feichín, anglisiert Termonfeckin, seine Zuflucht), und obwohl das Haus kleiner und verfallener war als die meisten anderen, die ich anschaute, kaufte ich es. Auf den vielen einsamen Fahrten von Besichtigungstermin zu Besichtigungstermin überlegte ich mir oft, wohin ich am Abend gern heimkehren würde, und da tauchte immer wieder das Bild dieses gelben Hexenhäuschens auf, in dem schon vor mir eine alleinstehende Frau mit einem eigenartigen Schicksal gewohnt hatte. Dank Mark, dem Baumeister, verwandelte sich die unbeheizte, nicht isolierte und düstere Vierzimmerruine innerhalb von drei Monaten in ein helles und warmes Zuhause, ohne – wie ich denke – sein verträumtes Aussehen zu verlieren, und zu den Höhepunkten meiner irischen Bauherrinnenkarriere gehört der Ausflug in Marks Lastwagen in die nahe Kiesgrube – doch das ist eine andere Geschichte.

Jetzt wohne ich mit Moses, meinem braunen Neufundländer Hund, der die Herzen und Kinder der Nachbarn erobert hat, wieder in Irland, nicht mehr in Rosemount, in dem lieblichen Tal voller Birken und Weiden, durch das ein magischer Bach fließt, sondern in Thunderhill, einem winzigen Häuschen auf einem Hügel, nicht mehr in einem Garten Eden, aber – trotz des Namens – ganz und gar nicht in der Hölle, und wie alle Vertriebenen kann ich mich damit trösten, auf meinen (Irr-)Wegen ein paar Einsichten gewonnen zu haben. Eine davon ist, dass diese Insel trotz und wegen all ihrer Veränderungen nichts an Faszination eingebüßt hat, und mich, so wie viele andere, noch immer zum Schreiben und Beschreiben verlockt. Die in diesem Band zusammengetragenen Betrachtungen und Geschichten sind bei einem zweiten Blick auf Irland entstanden, der nicht klüger, aber freier ist, denn ein Ort – wie auch ein Mensch -, in den man sich zweimal verliebt, muss nichts mehr beweisen. Während der Sommerregen auf das Dach meines Hexenhäuschens prasselt, schaue ich von meinem Schreibtisch nun auf Kirchturm und Friedhof – Mahner, angesichts seiner Vergänglichkeit das Leben jeden Augenblick zu leben – und auf meinen Garten, in dem ich im letzten Sommer einen Apfelbaum pflanzte. Denn in jedem Paradies wächst bekanntlich ein Apfelbaum.

Thunderhill, im Juni 2012

Details

  • Herausgeber: BoD
  • Erscheinungstermin: 15.11.2012
  • Taschenbuch: 208 Seiten
  • ISBN: 978-3848252015

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