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Die Farben eines
irischen Morgens
Es regnet – aber noch nicht lange. Als ich heute morgen mit den Hunden den Strand entlang spazierte,
war der Himmel rosarot, drei Kormorane flogen über die Wellen, und im Norden ragten die Berge von
Mourne wie ein Schattenriss aus dem Meer. Dahinter liegt Nordirland, das der Insel über Jahrzehnte
einen schlechten Namen gab. Heutzutage werden die Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen,
die mangels anderer Unterscheidungskriterien nach ihren Religionen benannt werden, von alternden
Politikern an Konferenztischen ausge- tragen.
Während die Hunde verschlafene Möwen auf- scheuchen, beobachte ich, wie der Bauch einer kleinen Wolke
allmählich zu leuchten beginnt. Dann taucht mit unvermuteter Eile die Sonne aus dem Wasser. Auch der
Süden, die Republik Irland, hat sich in den letzten Jahren verändert. Dublin ist kaum mehr von anderen
europäischen Städten zu unterscheiden, seine Schaufenster bieten dieselben Kleidermarken feil, auf
seinen Strassen stauen sich dieselben Autos.
Einzig die Anzahl von Luxus- wagen mag dem Besucher
auffal- len: Irland ist reich geworden. Investitionsentscheidungen ausländischer Unternehmer,
eine geschickte Indu- striepolitik, das hohe Ausbildungsniveau der Bevölkerung und wohl auch eine
Prise Glück haben den Iren ein Wirtschaftswunder beschert, das Seinesgleichen sucht, und die
Universitätsabgänger, von denen in den 1980er-Jahren noch ganze Jahrgänge emigrierten, sind zurückgekehrt,
um hier ihre eigenen Familien großzuziehen. Die Häuserpreise haben sich verzehnfacht, schlechter bezahlte
Arbeiten werden wie in anderen westlichen Ländern von Ausländern ausgeführt, und Asylanten aus allen Erdteilen
bemühen sich um Niederlassung. Irland ist farbiger geworden.
Der Strand ist voller Muscheln, die Hunde schnüffeln in den faulenden Algen, die ein ungewöhnlich heißer Sommer
am Strand zurückgelassen hat. Irland ist auch schneller geworden, ungeduldiger. Die Leute haben keine Zeit mehr
für das einst unvermeidliche kleine Gespräch über Wetter, Politik, die Weisheiten des Lebens. Dafür haben sie
Arbeit, machen Ferien im Ausland, verstehen sich auf italienisches Essen und kalifornischen Wein. Manche beklagen
den Verlust der Gelassenheit, der Neugier und Herzlichkeit, mit denen die Iren dem Unbekannten einst begegneten.
Die Armut hatte auch Vorteile, vor allem für jene, die sie nur besichtigten, ein paar Tage, Wochen hier verbrachten
und sich an dem freuen wollten, was sie selbst verloren hatten.
Aus blauem Himmel fallen die ersten Tropfen. Die Dünen leuchten noch golden, ein paar Kaninchen huschen in ihre Löcher.
Vielleicht liegt es daran, dass Irland eine Insel ist, vom Meer umspült, oder vielleicht ist es die Landschaft selbst:
die Wiesen, Hügel in tausendfachem Grün. Schon wenn er im Flugzeug über sie hinweg gleitet, leuchten dem Ankommenden
die Felder zwischen den Hecken entgegen. Es gibt weißere Strände, sonnigere Täler, man isst besser in anderen Ländern,
spaziert durch sauberere Strassen; Irland ist nicht für jeden. Aber wer dem Zauber der Insel verfällt, kommt nicht mehr
von ihr los. Und da sind all die kleinen Orte: Haine, Buchten, von Rhododendren oder Fuchsien gesäumte Strässchen,
Anhöhen, von denen der Blick über ein Netz von Steinmauern schweift. Sie betören nicht nur den Reisenden, sie sind es
auch, was die Insel ihren Bewohnern zur Heimat macht. So hat jede Wegkreuzung, jede Baumgruppe einen Namen, und in
jedem Namen steckt eine Geschichte.
(...)
Die paar Tropfen sind zu einem Regen geworden, der Himmel ist grau, die Möwen sind verschwunden. Seit mehr als zwanzig
Jahren spaziere ich jeden Morgen diesen Strand entlang, und er ist jedes Mal anders. Himmel und Wasser wechseln ihre
Farben, die Flut trägt Neues heran, holt Altes zurück, und was fern scheint, ist manchmal ganz nahe. Die Menschen
verändern nicht nur das Land, sondern es verändert auch sie, und wenn man lange genug an einem Ort bleibt, wird man
Teil von ihm. All die kleinen Geschichten verbinden sich zur Geschichte unseres Lebens. Ich blicke noch einmal
über den Strand, die verregneten Dünen, und da spannt sich ein Regenbogen über sie.
Julianstown, im August 2006